Gut einen Monat ist es her, dass die Paralympics in Rio vorbei sind und ich endlich dazu komme, einen kleinen Bericht darüber zu schreiben.
Die Vorfreude war immens groß, ich hatte extrem viel trainiert, mich optimal vorbereitet und ich konnte mit einem guten Gefühl fliegen, dass ich wirklich alles dafür getan hatte, erfolgreich abzuschneiden. Es war auch wirklich schön, dass ich diesmal mit einer fast vollständigen Einkleidung fliegen konnte und die Aussicht, die Eröffnungsfeier mit erleben zu können, die beflügelte mich fast.
So bin ich dann mit Constanze, meiner Begleitperson, am 31.08. von München nach Frankfurt und von dort dann mit dem Gesamtteam nach Rio weitergeflogen. Eigentlich sollten wir alle von Herrn Gauck verabschiedet werden, dem war auch so, nur leider kamen manche Anschlussflüge zu spät. Aus diesem Grund verpassten auch wir die Rede und das Gruppenfoto, erwischten den Bundespräsidenten aber genau noch im Rausgehen und konnten ein Foto mit ihm machen, was mich doch sehr gefreut hat.
Die Lufthansa hat uns wirklich super bewirtet, fand ich klasse und auch der Hinflug war angenehm. Wir bekamen sogar umsonst WLAN über den Wolken. Da das Team alle Team Germany Gepäckstücke in der gleichen Farbe hatte war es in Rio ein fröhliches Suchen bei rund 200 Teammitgliedern mit ungefähr 400 Gepäckstücken. Der Shuttleservice zum Dorf klappte dann aber recht gut und ich war auch mit der Zimmeraufteilung wirklich zufrieden.
Um gleich eines vorweg zu schicken. Vergleiche zwischen London 2012 und Rio 2016 sind müßig. London 2012 waren Paralympics in Europa, Rio 2016 sind die ersten Paralympics auf einem südamerikanischen Kontinent und man hat dieser Stadt und ihren Menschen sehr viel abverlangt bedingt durch beide Spiele. Die Probleme sind ganz anders. Hatte man 2012 in London Angst vor Terroranschlägen, so musste man sich in Rio 2016 mehr davor schützen, dass einem nichts gestohlen wird, bzw. dass man halt die Auflagen beachtet, dass niemand überfallen wird.
Unser Appartement war recht spärlich, aber ich habe schon oft in Jugendherbergen übernachtet, da war es auch nicht anders. Wir hatten einen Housekeeping Service, der nicht wirklich so arg zuverlässig war. Darum haben wir uns mit Putzmitteln ausgestattet und zuweilen selbst Hand angelegt. Ich fand das nicht tragisch, denn wenn ich auf dem Weg zum Trainingsplatz oder zum Stadion an den Stadtteilen vorbeigefahren bin, in denen die Menschen wohnen, die richtig wenig Geld haben, dann weiß ich, dass die sehr gerne bei uns im Dorf übernachtet hätten. Motzen erschien mir da nicht angebracht.
Gut, es war sinnvoll, alle Wertsachen und auch Kleidung in Koffer und auch den Blechschrank in der Wohnung wegzusperren, denn es kam doch zu einigen Diebstählen, wie wir hörten. Bei uns wurde dann doch nur die Kinderschokolade und Tick Tack geklaut, was wir eher witzig fanden.
Auch das Essen in der Mensa fand ich wirklich in Ordnung. Nicht nur in Ordnung, mir hat es echt geschmeckt. Es gab viel frisches Obst, auch leckeres landestypisches Essen, das wechselte und auch guten Nachtisch. Für mich drei Wochen echt aushaltbar!
Im Dorf gab es eine gut ausgestattete kleine Poliklinik, ein super Fitnessstudio und in jedem Haus unten im Foyer einen Fernseher. Die Wäscherei hat – wider Erwarten – sehr gut funktioniert. Nichts ist verloren gegangen, ich habe alles zurückbekommen und auch die Öffnungszeiten waren extrem flexibel. Zudem waren sie super nett.
(Die kleinen Fotos in den Fotogalerien öffnen sich durch Anklicken und werden dann größer!)
Der Shuttle Service ins Stadium und auch zur Eröffnung- und Abschlussfeier klappte absolut reibungslos. Es gab eine Art „Rio-Spur“ und wir standen nie im Stau. Die haben toll hinbekommen. Auch die Volunteers im Stadium waren extrem höflich und total motiviert, an welcher Position sie auch immer standen. Weiter gab es eine Menge Sicherheitspersonal, auch vom Militär. Diese waren irgendwann auch vom „Paralympics-Virus“ befallen und wir hatten alle eine echt klasse Zeit zusammen.
Ich hatte etwas Pech, ich habe mir direkt in den ersten fünf Minuten meinen Daumen verletzt. Eigentlich habe ich nur den Reißverschluss der Tasche aufgezogen, dabei ein Stück vom Daumennagel abgebrochen und das hat sich dann nach zwei Tagen extrem entzündet und ich dick geworden. Ich musste ein Antibiotikum einnehmen und durfte nicht mehr trainieren. Das war hart. Vor allem arbeiteten die Ärzte schon an einem Notfallplan wie ich evtl. nur 6 Stöße beim Wettkampf mache und dann sofort aufhöre. Das hat mir schon zugesetzt. So lange nur dafür trainiert und dann diese Kleinigkeit, die mir einen Strich durch die Rechnung macht.
Es folgen ein paar Fotos der Eröffnungsfeier (opening ceremony)...zum Öffnen anklicken.
Ich durfte – trotz Daumen – ein Projekt besuchen, für das ich im Vorfeld Geld gesammelt und gespendet hatte. Es handelte sich um ein Sportprojekt in einer Favela im Stadtteil Campinho in Rio. Das Ganze stand unter der Schirmherrschaft von „Rio bewegt uns“ und deshalb konnten wir dort auch sicher hin. Es war ein Besuch, der nicht nur mich sehr bewegt hat, in vielerlei Hinsicht.
Bewegt hat mich natürlich, was die Leute dort in den Projekten leisten, das ist super. Im Kindergarten feste Mahlzeiten, auch schon Vorschule, dann in diesem Sportprojekt kommen die Kinder vormittags hin, die nachmittags zur Schule gehen und nachmittags die, die vormittags zur Schule gehen. Und dann gibt es noch eine Art Berufsschule, auf der Abitur gemacht werden kann mit der Möglichkeit, nachher die Uni zu besuchen. Und zwei der jungen Erwachsenen studieren gerade. Sie waren so glücklich, dass wir kamen, dass sie uns gleich umarmt haben. Das hat mich sehr bewegt und ich habe sie dann auch noch ins Stadium eingeladen. Bewegt hat mich aber auch, wie glücklich die Kinder trotz der Umstände wirken, in denen sie leben müssen. Und bewegt haben mich zwei Mädchen, die sich meiner ganz spontan von Beginn des Besuches an angenommen haben. Sie haben mir ihre Schulter zum Gehen angeboten und als sie dann eine Autogrammkarte bekommen haben, so war das das schönste Geschenk überhaupt in ihrem Leben. Sie würden sie immer aufheben, sagten sie. 80 Prozent dieser Kinder haben das Meer noch nicht gesehen! Das werde ich ändern, dieses Versprechen habe ich mir gegeben als wir wieder gefahren sind.
HIER ein Bericht von der Bild Zeitung, der sehr gut und authentisch geschrieben ist.
Der Daumen hat sich etwas schneller gebessert als geplant, dann kam leider eine Augenentzündung und kurz darauf eine fiebrige Erkältung mit Lungenbeteiligung. Constanze hat es dummerweise auch erwischt. Doch viele von uns hatten diese Erkältung. Der Übergang von draußen (30-38 Grad feuchte Hitze) zur frostigen Temperaturen in der Mensa und im Bus (fast gefriertruhenartig) war doch immer sehr krass.
Einen Tag vor meinem Wettkampf war ich zwar nicht gesund, aber ich konnte Stehen und die Nase lief nicht mehr so arg. Ich hatte mit Paracetamol kein Fieber mehr und das Stoßen funktionierte. Was wollte ich mehr?! Gut, dass mein Wettkampf erst am vorletzten Tag war!! Ohne die Hilfe des medizinischen Teams hätte ich meinen Wettkampf gar nicht bestreiten können – Danke nochmal dafür!
In der restlichen Zeit habe ich viele Sportfreunde aus der ganzen Welt getroffen, habe mich gut unterhalten und war auch ein paar Mal im Stadium und habe mir einen Wettkampf angeschaut. Einmal war ich für ein paar Stunden mit Constanze im Olympiapark, der an diesem Tag extrem voll war. Aber es war wohl so, dass die Brasilianer sehr gerne zu den Paralympics kamen. Die Eintrittspreise waren niedriger, aber sie fanden unsere Spiele einfach auch gut. Viele hatten ihre behinderten Kinder mit dabei und ich denke, das war mit ein Grund. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass die Leute im Stadion bis zum Ende der Paralympics nicht verstanden haben, wie Leichtathletik teilweise funktioniert, aber das macht nichts. Sie waren immer mit ganzem Herzen dabei, haben super Stimmung gemacht und die Herzlichkeit hat sich auf alles ausgebreitet. Und wenn ein Brasilianer gestartet ist und gar noch unter die ersten drei kam, dann ging „voll die Post ab“! Ja, es waren „die Spiele des Volkes“ wie viele sie genannt haben. ABER was nicht korrekt ist, dass die Paralympics die besseren Spiele sind. Das stimmt so nicht. Die Olympischen Spiele sind die Olympischen Spiele und sie haben nochmal ganz andere „Reize“, auch andere Disziplinen. Hätte man die Tickets günstiger gemacht, wären die Leute auch in die Stadien. Sowohl bei den Olympischen Spielen, als auch bei den Paralympics gibt es Helden. Doch die Paralympics haben den Vorteil, dass dort zuweilen die Helden noch „geboren“ werden können, weil es so viele Athleten mit ganz vielen Geschichten gibt. Und manchmal sticht eine Geschichte halt mehr raus oder ein Athlet schreibt seine bei den Paralympics neu. Deshalb wäre es auch nicht gut, die Olympischen Spiele und die Paralympics zu vermischen – jede „Gruppe“ braucht ihre Plattform.
Und dann war er da, mein Wettkampftag. Ich hatte die Chinesin noch nie live gesehen und es war natürlich schon mal spannend, sie selbst beim Einstoßen zu sehen. Ich habe mich gesundheitlich schon mal fitter gefühlt, aber die Nase lief nicht mehr, ich bekam mäßig Luft und wie schon erwähnt, das Fieber war auch halbwegs weg. Die paar Stöße bevor ich in den Callroom ging waren o.k. und ich war einfach nur froh, dass ich jetzt hier saß und in den Ring konnte. Die Chinesin war an erster Stelle dran, ich an Zweiter. Fand ich gut. Ich stoße nicht gern als Erste. Wir durften relativ bald ins Stadium, auch noch ein paar Stöße machen und auch die waren zufriedenstellend. Meine Freunde aus Rio saßen hinter mir, das war schon echt toll, dass jemand da war, der mir zuschaute. Denn diesmal war keiner aus meiner Familie mit dabei, auch nicht von meinen Freunden aus München. Doch meine brasilianischen Freunde sind mir sehr Herz gewachsen, es ist Familie in Rio und sie sehen es genauso. Sie haben den ganzen Block mitgerissen und ich hatte zum Schluss einen kleinen Fanclub dort. Das war schon echt toll!
Die Chinesin hat im ersten Stoß irgendwas mit 10,33m gestoßen und mein erster Stoß ist immer aus dem Stand. Diese Weite wollte ich aus dem Stand toppen und das habe ich auch geschafft. Ich glaube, das hat sie etwas aus dem Konzept gebracht, denn danach war keiner ihrer Stöße mehr so weit und sie konnte auch nicht mehr kontern. Das Gute war, dass ich dann im Angleiten meine Trainingsweiten von über 11,41m abrufen konnte, was mich sehr freute. Einer davon war auch ein neuer Paralympischer Rekord. Wenn ich ganz gesund gewesen wäre, wäre es vielleicht ein neuer Weltrekord geworden, denn ich war nur rund 10cm davon entfernt, aber ich war nicht wirklich enttäuscht, denn ich hatte mein Ziel voll erreicht: ich wollte mit der Weite gewinnen, die ich im Training ungefähr als Bestweite stoßen kann. Ich habe das gezeigt, was ich kann, für das ich trainiert habe, ich bin nicht unter meinem Niveau geblieben, obwohl ich davor noch krank gewesen war. Und tatsächlich hätte jeder meiner Stöße zum Sieg gereicht. Das ist auch super.
Ein bisschen was von meinem Wettkampf im Video ist HIER zu finden!
Was mich aber am meisten gefreut hat war: in London 2012 bin ich noch im Sitzen gestartet, habe zwei Mal Gold geholt (das ging jetzt nicht, ich hatte nur noch eine Disziplin!) und jetzt habe ich mich zu einem stehenden Werfer weiterentwickelt. Das war ein harter Weg und ist es immer noch. Wenn ich auch nur im Stehen hätte starten können, dann wäre das schon ein Triumph gewesen, doch das Ganze noch mit Gold zu krönen, das war für mich etwas ganz Besonderes. Ich glaube, nur ganz wenige haben begriffen, wie hart dieser Weg dorthin war und wie groß das Glück (das ich empfunden habe) in dem Moment auf dem Siegertreppchen.
Erst hinterher habe ich erfahren, dass die Chinesin ihre Behinderung ebenfalls durch einen Behandlungsfehler bekommen hat und die Drittplatzierte, die Australierin, sie kommt auch vom sitzenden Werfen. Es war eine gute Kombination. Irgendwie sind wir alle Sieger!
Es waren meine zweite Paralympics, sie waren total anders als London. Auch danach überhaupt kein Pressewirbel. Das ist o.k., wahrscheinlich haben wir zu oft Gold gewonnen und dann kommen mal andere dran.
Gibt es ein Fazit nach Rio? Es gibt durchaus einiges, das mir in Rio aufgefallen ist, aber dafür wird mal an anderer Stelle Platz sein. Für heute bin ich einfach nur stolz, dass ich so viel erreicht habe, dass ich hier sitzen darf und neben mir sind 3 Goldmedaillen der Paralympics und 9 Goldmedaillen von Europa- und Weltmeisterschaften. Es geht nicht immer um Medaillen, es geht nicht immer um Siegen, es geht um persönliche Siege und wenn ich zurückblicke auf das Jahr 2008 habe ich für mich persönlich den größten Sieg überhaupt errungen. Ich habe so viele innere Grenzen gesprengt, und hoffe, dass ich das halten kann. Dafür betreibe ich diesen Sport, dass ich mir diesen Bewegungsspielraum erhalten kann, dass es mir besser geht, dass ich glücklich bin. Und all die Menschen, die ich in den letzten Jahren durch den Sport kennenlernen durfte, die sind eine unheimliche Bereicherung in meinem Leben. Nächstes Ziel: Tokio 2020 – Etappenziel: Weltmeisterschaft 2017 London!